Ausweg aus der reizbarkeit

Irgendwann vor kurzer Zeit fragte mich eine Mutter:

 

Manchmal, wenn ich nach einem stressigen Tag oder/und vielen notwendigen Erledigungen nach dem Feierabend nach Hause komme, bin ich extrem gereizt, genervt und vermutlich für meine Familie einfach unausstehlich. Jedes herumliegende Spielzeug der Kinder oder sonstige Gegenstand, der nicht an seinem Platz ist, bringt mich zur Weißglut und an meine Grenzen.

 

Das kann ich sehr gut nachvollziehen, Ich sehe sie schon stolpern und die Schuhe in der Ecke landen. Am liebsten hätte ich dann meine Ruhe, wäre erstmal mit mir allein, hätte gern die Ordnung, die dann wieder Ordnung in meinen Kopf und Ruhe in mein Gemüt einkehren ließe.

Oh ja, absolut verständlich.

 

Doch das geht natürlich nicht oder nicht so einfach.

 

Nein, bestimmt nicht, einfach, nicht.


Was kann ich tun, damit ich meine Gereiztheit nicht an meinen Lieben auslasse?

 

Vor dieser Frage sitze ich und denke so bei mir: Wie schön, dass sie nicht ihren Lieben Vorwürfe macht, sondern bei sich selbst schaut, was sie anders machen kann. Das unterscheidet sie in wohltuender Weise von vielen anderen. Bei sich selbst kann man etwas ändern, bei anderen nur schwer.

Nach der 73. Ermahnung steigt zwar die Wahrscheinlichkeit, dass die ansonsten herrenlos herumliegenden Schuhe zumindest annähernd paarweise sortiert im richtigen Zimmer stehen, doch das, was wir uns nach einem abgehetzten Tag unter Ordnung vorstellen, ist dennoch lange nicht erreicht.

Ich (und vermutlich viele andere) kenne das Gefühl nur zu gut, dass jedes zusätzliche Ereignis, und sei es noch so unbedeutend, das Fass zum Überlaufen bringen kann, wenn man am Tag bereits vieles aufgesammelt hat, das einen anstrengt. Tatsächlich schaltet der Körper dabei in einen anderen Modus und ist nur noch auf Angriff oder Flucht programmiert. Es lässt sich sogar physiologisch erklären.

 

 

 

 

Ein uraltes Neandertalerprogramm läuft ab, wenn man in diesen Zustand gerät. Ausgelöst durch eine wahrgenommene Bedrohung, entsteht das, was man gemeinhin als “Stressreaktion” bezeichnet. Die Handlungen werden derb, der Blick eingeschränkt, der Puls rast, man kann sich hinterher oft gar nicht mehr erinnern, und wenn, tut einem alles unsagbar leid.


Das geschieht, wenn man “den Kanal voll” hat oder andersrum, der Akku leer ist. Nicht nur hochsensiblen Menschen geht das so, aber sie erleben vermutlich öfter diese Situationen.

 

Akku? Mein Blick fällt auf mein Handy – ein hochsensibles Handy, wie man vermuten könnte. Gerade noch stand die Akkuanzeige auf 17 %, ich mache ein Foto und  …. Totalausfall. Offenbar leistet es im Hintergrund so viel, von dem ich nichts weiß, zeigt nach außen zwar noch stolze 17%, ist aber in Wirklichkeit schon kurz vor dem Kollabieren. Und – aus.

 


Ein Akku braucht Strom, wenn er etwas leisten soll

 

 

Einen leeren Akku füllt man nicht durch gutes Zureden, nicht durch gute Vorsätze und nicht, indem man ihm in Aussicht stellt, dass man ihn in 2 Tagen an eine Steckdose anschließen wird. Er braucht Strom, wenn er etwas leisten soll, jetzt!

 

Du kommst nach Hause, sichtbare Ladestandanzeige bei 17%, vielleicht sogar 30%, innen fühlt es sich deutlich magerer an, aber wer gibt das schon gerne zu? Jetzt stellt sich die Frage, wie man der ersten Herausforderung in Form eines herumliegenden Schulranzens relaxt entgegen'treten' soll. Ok, geschafft, um die Ecke gebogen, auf ein Playmobil-Männchen getreten und … Totalentladung.

 

Aus meiner Sicht eine normale Reaktion für Menschen, die durch diverse Tagesereignisse bereits Stufe Rot auf der nach oben offenen HSP-Skala erreicht haben: Ge-reiz-theit.

 

Und jetzt stellt sich die Frage: Hilft es, eine Erholungsphase von 2 Tagen in Aussicht zu haben, wenn heute erst Dienstag ist? Hilft es zu wissen, dass der Urlaub bald naht? Beides ist schön, doch Energie kommt nicht dadurch zurück, dass wir uns vorstellen, wie entspannt es irgendwann sein könnte. Steckdose – jetzt!  Eigentlich schon vorher.

 

Ich möchte nochmal den Zusammenhang herausstellen:  In den beschriebenen Situationen ist man nicht unfair gegenüber anderen, weil man intolerant ist oder ein pädagogischer Null-Blicker. Es “geschieht” mit einem, automatisch. Es ist eine Art Notprogramm, das da abläuft. Was für den Neandertaler der Säbelzahntiger, ist für uns das herrenlose Playmobil-Männchen bzw. sein Besitzer, der uns durch seine Gleichgültigkeit und unbeabsichtigte Nicht-Rücksichtnahme so in Rage bringt.

 

Klar, man kann lernen, sich zu beherrschen. Beißt in die Faust, schluckt 5 mal, atmet in den Bauch oder wendet andere 'neuzeitliche' Strategien an. Aber manchmal hat man dafür nicht mehr die Kraft und dann kommt es zu diesen “Aussetzern”, für die man sich hinterher verurteilt.


Deshalb ist meine Empfehlung: Auftanken. “Geht natürlich nicht”, sagt sie. “Oder so einfach nicht”, sagt sie dann.

Nein, geht nicht, wenn man alles macht wie bisher. Doch mit etwas Kreativität und Mut zur Veränderung geht es. Einfach? Nicht. Aber es geht.

 

 

Nichts ist auf der Welt ist so gerecht verteilt wie die Zeit

 

Nichts ist auf der Welt ist so gerecht verteilt wie die Zeit. Jeder Mensch hat so ziemlich gleich viel, am Tag 24 Stunden. Man kann sie so oder anders verbringen. Will sagen, wenn wir uns für eine Sache Zeit nehmen, rutscht etwas anderes in die hinteren Ränge. Wenn man also Zeit für etwas finden will, die man nicht hat, muss etwas anderes dafür ausfallen, kürzer werden, verschoben werden. Klingt trivial, ist es aber nicht. Wenn man glaubt, keine Zeit zu haben, muss man sich bewusst dafür entscheiden, etwas anderes abzuwählen und dafür braucht man einen guten Grund.

Wenn es dir wichtig ist, dass du dir Zeit nimmst für Regeneration (Steckdose jetzt), brauchst du dafür einen gewichtigen Grund (Ich will meine Lieben nicht mit meiner Gereiztheit belasten). und musst etwas anderes in seiner Priorität zurückstufen.

 

Jetzt stellt sich noch die Frage, was dafür weichen muss. Das ist der Teil mit der Kreativität. Überraschenderweise gehen allerlei Türen auf, wenn man sich erst mal die innere Erlaubnis dafür gegeben hat, nach ihnen zu suchen. Viel schwieriger ist der gerade beschriebene erste Schritt. Dort tauchen Gedanken auf wie: “Dann komm ich ja noch mehr in Zeitdruck, ich bin ohnehin schon spät, das kann ich doch nicht machen, andere schaffen das doch auch …”)

 

Ja, es gibt sie, die Mütter aus der TV-Werbung mit der Milchschnitte. Die mal eben auf der Gartenbank ausruhen und dann milde lächelnd wieder aufspringen, wenn die kleinen Indianer kreischenderweise um die Milchschnitte betteln. Das ist Fernsehen, vielleicht gibt es sie sogar in echt, aber weniger bei den Hochsensiblen, wäre meine Vermutung.

 

 

Welche Ideen kann man haben, um die dringend notwendige Ladephase zu bekommen, bevor man sich in den häuslichen Trubel stürzt? Zunächst: Es geht nicht darum, den Akku in der Zeit zwischen Supermarkt und Abendbrot komplett aufzuladen. Es geht um eine kurze Phase der Regeneration, die einem ermöglicht, den häuslichen Unwägbarkeiten mit so viel Gelassenheit entgegen zu treten wie nötig, ohne gleich die tiefenentspannte Milchsschnitten-Mami zu geben.

 

Wir denken oft in zu großen Einheiten: 1 Stunde Yoga, 2 Stunden Sauna, 1 Stunde Spaziergang, 8 Stunden Schlaf. Ich spreche von 5 (S), 10 (M), 15 Minuten (L), nicht von der XXL-Variante. Diese kurzen Phasen der Stille sind echte Energybooster, wenn sie ohne schlechtes Gewissen genossen werden.

 

Das wussten schon die Betreiber von Fließbändern zu Zeiten von Großpapa. Akkordarbeit wurde jeweils für 55 Minuten ausgeführt, dann folgten 5 Minuten Pause. Das geschah nicht aus humanitären Gründen, sondern weil man erkannt hatte, dass die Leistungsfähigkeit selbst nach so kurzer Unterbrechung wieder deutlich zunahm. Auch wir kennen das noch von der sehnsüchtig herbeigesehnten 5-Minuten-Pause zwischen den Schulstunden.

 

Wie wäre es also mit 15 Minuten früher aufhören oder später heim kommen? Auf der Strecke von hier nach da könnten Sie anhalten, sich an einen Baum lehnen und in den Himmel sehen.

  • im Auto auf dem Parkplatz sitzen bleiben, die Augen schließen und dem eigenen Atem lauschen (oder dem Straßenverkehr).
  • die letzten beiden Stationen der Straßenbahn zu Fuß zurück legen und die Zeit mit sich allein genießen.
  • sich in einem Büchlein, das Sie immer bei sich tragen, den Tag von der Seele schreiben.
  • nichts tun, nichts wollen, einfach sitzen, wo Sie gerade sind und die Gedanken leer laufen lassen, bevor Sie die Haustüre ansteuern.

Es ist nicht notwendig, dass Sie meine Vorschläge aufgreifen. Lassen sie Ihre eigenen Gedanken anschubsen und finden Sie Ihre eigene “Auflade-Taktik”. Entscheidend ist, dass Sie sich Zeit nehmen, Zeit gönnen für etwas, das Ihnen gut tut, sie entspannen lässt oder Sie zumindest nicht weiter fordert. Ohne schlechtes Gewissen, weil es eine wichtige Maßnahme ist, für Ihr persönliches Wohl, für Ihre Gesundheit und für andere.

 

Rechtzeitige Regeneration ist mega-wichtig, um keinem Totalausfall zu riskieren und lässt sich nicht bündeln oder auf zukünftige Urlaubstage projizieren. Es sind die paar Minuten zwischendrin, die Sie sich einräumen, wenn Sie merken, dass die Ampel droht, von gelb auf rot zu springen.

 

Als Akut-Maßnahme hilft schon mal das Aufsuchen des “stillen Örtchens”, das offenbar nicht ohne Grund so heißt. Noch besser ist ein Ritual, das Sie am Feierabend (kurz) auftanken lässt, damit der Abend tatsächlich einen Grund zum Feiern und nicht zum Davonlaufen bekommt.

 

Rituale haben den Vorteil, dass sie ihr Zeitfenster nicht jeden Tag aufs Neue erkämpfen müssen, sie sind wie ein Serientermin im elektronischen Kalender. 

5 Schritte zu mehr Ge-lassen-heit

 

Das sind die 5 Schritte zu mehr Ge-lassen-heit, der Schwester der Ge-Reiz-theit.

  1. Kreative Lösungen zum Schnellladen des Akkus suchen (statt zu sagen, es geht nicht)
  2. Zeit aktiv nehmen (statt zu warten, dass sie sich ergibt)
  3. Gutes Gefühl dabei haben (statt schlechtes Gewissen)
  4. Tun (statt darüber zu reden)
  5. Freuen (ohne wenn und aber)

Risiken und Nebenwirkungen

  • Das betroffene Umfeld wehrt sich zunächst gegen Veränderungen, die Sie anzetteln (z.B. 15 min später heim kommen).

Das ist der normale Reibungswiderstand des Systems. Rechnen Sie damit, die Belohnung für alle gibt es später. Zum Beispiel in Form einer lächelnden Mama, die zwar erschöpft, aber deutlich entspannter, die Schuhe aus dem Weg räumt.

  • Es gelingt Ihnen nicht, sich selbst etwas Gutes zu tun.

Dann denken Sie dran, dass es nicht nur um Sie selbst geht. Sie sind nur die Stelle, an der der Hebel ansetzt. Den Nutzen haben alle, die mit Ihnen zusammen sind.

  • Die Zeit der Regeneration tut so gut, dass Sie am liebsten nichts anderes mehr tun würden.

Das ist ein Restrisiko, mit dem Sie leben müssen.