Der Entscheidungsmuskel

Wer dem Satz nicht schon beim Sport begegnet ist, hört ihn irgendwann vom Arzt: “Ein Muskel muss trainiert werden, sonst verkümmert er.” Er verschwindet zwar nicht vollständig aus dem Körper, nein, irgendwo vegetiert er schlapp dahin, aber er ist nur schwer wieder aus seiner Lethargie zu wecken.

Und wie ist das mit dem Entscheidungsmuskel?

Manchen fällt es leicht, eine Wahl zu treffen, manchen schwer, manche wälzen stundenlang Pros und Cons hin und her. Und es gibt echte Entscheidungssprinter, die wissen schon, was sie wollen, bevor noch ganz klar ist, was überhaupt die Alternativen sind. Unter Hochsensiblen sind die allerdings seltener anzutreffen. Dort findet sich eher der Typ Langstreckenläufer, bei dem man hoffen kann, dass er im Idealfall am Ziel ankommt und nicht unterwegs im Gewirr der Gedanken verloren geht.


Liegt es am Trainingszustand?

 

Anatomisch ist es natürlich ausgemachter Blödsinn, wenn man annimmt, dass ein Muskel an Entscheidungen beteiligt sei. Aber der Gedanke hat seinen Charme. Muskeln kann man trainieren, dann sind sie besser als vorher in der Lage, ihre Arbeit zu tun. Und man muss sie über das Maß dessen beanspruchen, was sie ohnehin von sich aus tun würden. Der Körper ist nämlich, nett gesagt, ökonomisch. Weniger freundlich ausgedrückt: ein fauler Knochen. Er macht immer nur so viel, wie er unbedingt muss und deshalb wollen die Muskeln stets beansprucht werden, damit sie in Form bleiben. Das kennt jeder, der schon mal mit erschreckten Augen sein dünnes Ärmchen betrachtet hat, nachdem es aus dem Gips geschält wurde.

 

Mit dem Entscheidungsmuskel verhält es sich ähnlich, den kann man trainieren.

 

Verantwortlich sein ist nicht gleichbedeutend mit schuld sein

 

Doch beginnen wir von vorn. Wenn du zu den Menschen gehörst, die schon in der Pizzeria an ihre Grenzen kommen, wenn es darum geht, zwischen Pasta und Pizza zu entscheiden, bist du hier goldrichtig. Oder hast du schon mal eine Küchenplanung aufgestellt? Oh weh, daaaaass ziiiiieht sich, die Summe der Einzelentscheidungen übersteigt das Maß an Vorstellbarem bei Weitem.

 

Hochsensible sind bekanntermaßen intensive Denker: Nachdenker, Vordenker, Planer, Konsequenzendenker, Querdenker … das braucht Zeit, das kostet Energie. Wer nicht nur eine Alternative von vorn bis hinten gedanklich verfolgt, sondern gleich mehrere, weil er diverse Handlungsoptionen und deren Vor- und Nachteile, Auswirkungen und bisherige Erfahrungen, eigene und die anderer, beleuchtet, ist erst mal eine Weile beschäftigt.

 

 

Sollte sich am Ende eine der Alternativen als die eindeutig Beste herausstellen, herzlichen Glückwunsch! Meistens ist das Ergebnis aber in Situation A eher dieses, für den Fall B eher jenes und langfristig ist ohnehin zu bedenken, dass ja noch der Fall C eintreten kann. Sackgasse. Wurden überhaupt alle verfügbaren Informationsquellen genutzt, sind sie verlässlich und was ist mit nicht verfügbaren aber prinzipiell vorhandenen Daten, die man ebenfalls noch in Betracht ziehen könnte?

 

Dieser Entscheidungsvorbereitungsstrategie liegt der implizite Glaube zugrunde, dass das Ergebnis besser wird, je mehr und gründlicher man recherchiert, abwägt und vorausdenkt. Dabei kommt einem HSP die Fähigkeit, mit Komplexität umzugehen, einerseits zu Gute. Anderseits füllt er so aber seine Gedankenstraßen mit Input bis zur Muskelstarre und dann geht nix mehr. Stau. Krampf.

 

Darüber hinaus neigen viele Hochsensible dazu, sich selbst die Schuld zu geben, wenn am Ende die Pizza doch die schlechtere Wahl war und sich die grifflosen Küchenschränke als unpraktikabel herausstellen. “Hätt ich doch” … Wer kennt diesen Satz nicht? Weil sich keiner gerne mit Selbst- (oder Fremd-) vorwürfen plagt, rennt man wieder zurück auf die Piste und noch einige weitere Runden bis zur eigenen Erschöpfung oder der anderer, die auf ein Ergebnis warten.


Beschleunigungsfragen

Wer seinen Entscheidungsmuskel trainieren möchte, um schneller zum Ergebnis zu kommen, sollte sich (zügig ;-) folgende Fragen beantworten, wenn er wieder mal an einer Weggabelung steht. Sie beinhalten Abkürzungen, sie sind Chancen, sich die Aufgabe oder auch Qual der Wahl leichter zu machen.

  •  Ist die Entscheidung endgültig oder grundsätzlich reversibel?

Viele Entscheidungen trifft man nicht für die Ewigkeit, deshalb muss man auch nicht ewig darüber nachdenken. Entscheide für jetzt. Selbst wenn es nicht gut war, die Möglichkeit stellt sich erneut, du bekommst die nächste Chance. 

  • Was sind die Auswirkungen, wenn du eine weniger gute Entscheidung triffst? Welche “Kosten” (materielle, emotionale, ideelle) sind mit der Entscheidung verbunden?

Manchmal sind sie sehr bedeutungsvoll (ein Kind bekommen oder nicht), manchmal weniger (mit der Bahn fahren oder mit dem Auto). Die meisten Themen im Alltag sind selten derart bedeutungsvoll, insofern ist es auch nicht derart wesentlich, wohin das Pendel ausschlägt. Lass die Luft aus dem Thema, wenn es sich nur aufgeblasen hat (beim Koffer packen zum Beispiel). Und wenn es ein wirklich großes Ding ist, dann lass dir Zeit für eine Entscheidung, hier ist wirklich der lange Atem des Marathonläufers gefragt.

 

  • Wie nah liegen die Vorteile/Nachteile der möglichen Alternativen beieinander?

Entscheidungen sind gerade dann besonders schwer, wenn die Alternativen ähnlich attraktiv sind. Nur – wenn sie so ähnlich sind, kann man auch nicht viel falsch machen. Wenn sie nicht ähnlich sind, fällt die Entscheidung auch nicht so schwer. Das Hadern hinterher ist da ein Problem. Vielleicht. Vielleicht, wäre das andere einen Tick schöner gewesen. Ja, wäre, vielleicht. Sicher sogar. Und? Ist es wert, sich damit jetzt die Laune zu verderben? Wer ständig vergleicht, hat dazu ständig die Gelegenheit. Wer die Dinge nimmt, wie sie sind, ohne permanent nach “Besserem” zu schielen, ist auf dem Weg zu innerer Zufriedenheit. Schulterzucken und weiter geht’s. , dafür eben – rationaler. Spann’ sie zusammen vor deinen Karren, Rationalität und Intuition, dann nutzt du die PS von beiden.

 

  •  Muss nur ich mit den Konsequenzen leben oder auch andere?

Sind andere mit betroffen, lohnt es sich sicher, eine Schleife mehr zu drehen, denn die Verantwortung, die man trägt, ist deutlich größer. Sofern du die Betroffenen einbeziehen kannst, mag es dir helfen, die gefühlte Verantwortung zu teilen. Falls nicht, dann frag dein Gefühl, deine Intuition. Sie weiß oft viel schneller was gut ist, weil sie Aspekte einbezieht, an die du nicht gedacht hast. Der rationale Kopf ist viel langsamer

Und die Frage aller Fragen ....

Was denkst du über dich, wenn du eine “falsche” Entscheidung getroffen hast? Die Neigung, sich selbst die Schuld zu geben, wenn eine Entscheidung nicht das gewünschte Ergebnis bringt, ist bei vielen eine wesentliche Ursache ihrer Entscheidungsschwäche und überproportional langer Vorbereitungen und Abwägungen. “Hätte ich doch … “. Da war er wieder.

 

Kannst du wirklich alles Ungute vermeiden, wenn du nur lang genug versuchst, es zu verhindern? Du bist für das Ergebnis verantwortlich, aber du bist nicht schuld. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied. Verantwortung trägt man mit geradem Rücken und erhobenem Haupt, Schuld trägt man mit krummem Rücken und gesenktem Blick. Steh’ zu deinen Entscheidungen, auch wenn sich im Nachhinein heraus stellen sollte, dass es anders besser gewesen wäre. Die Informationen, die man nachher hat, stehen einem vorher meist noch nicht zur Verfügung oder sind nur mit überproportionalem Aufwand zu beschaffen und selbst dann kann das Schicksal einem noch Streiche spielen.

 

Ist es nicht arrogant zu glauben, wir könnten alles selbst stimmen? Das Vertrauen, dass alles so kommen wird, wie es soll, dass wir die Weichen stellen können, die Dinge dann aber einfach geschehen, dieses Vertrauen in das Schicksal entlastet das Herz in Entscheidungssituationen. Genau das machen entscheidungsstarke Menschen anders: “So what?” ist deren Satz und nicht “Oh je”. Sie beschäftigen sich nicht mit der Vergangenheit, sondern bestenfalls mit der Zukunft, indem sie sich Gedanken darüber machen, was sie aus der Erfahrung fürs nächste Mal lernen können.


Flexibilität und Elastizität

Den Entscheidungsmuskel kann man trainieren, indem man manchmal “einfach macht”. Wer flexibel und offen bleibt für Erfahrungen und nicht mit allzu starren Erwartungen unterwegs ist, kann sich auf das Ergebnis einstellen. Vielleicht sogar Vorteile aus einem Ergebnis ziehen, das er sich zunächst nicht gewünscht hat. Wer sich keinen “Spiel”raum gibt, wird es schwer haben. Ein wenig darf das Schicksal doch mitmischen, macht es doch ohnehin, nicht wahr? Und wie oft davon auch im positiven Sinn, was man allzu gerne vergisst ?

 

Das Leben ist eine Kette von aneinander gereihten Entscheidungen, von denen die simpelste heißt: etwas

 

machen oder lassen. Gerade weil davon am Tag einige hundert (oder mehr) kleinere und größere anstehen, liegt hier ein wesentliches Ressourcen-Einsparpotenzial, besonders für Hochsensible. Mutwillige Verein-fachungen sind nicht empfehlenswert, doch mit einer bewusst vorgenommenen Reduzierung der Komplexität tut man sich und vielen anderen einen großen Gefallen. Nimm ab und zu die Abkürzung, sag’ ab und zu ja oder nein und schau was passiert, lerne dich auf Konsequenzen flexibel einzustellen. Elastizität, Flexibilität, Energie und manchmal auch Schnelligkeit sind Kennzeichen leistungsfähiger Muskeln, auch wenn es manche davon gar nicht wirklich gibt.