Wer das Phänomen der Hochsensibilität verstehen will, wird feststellen, dass es nicht so einfach greifbar ist. Kaum will man ihn fassen, den Fisch, flutsch – schon ist er einem wieder entglitten.
Auch wenn mittlerweile viel über die sogenannten Hochsensiblen geschrieben und gesprochen wird, wirken die Beschreibungen oft sehr unterschiedlich, insbesondere für den, der selbst nicht zu dieser Gruppe von Menschen gehört.
Das erklärt sich zum einen daraus, dass die hochsensible Veranlagung nur ein Aspekt der Persönlichkeit ist, der sich durch alles andere hindurchzieht (wie im letzten Blog-Artikel beschrieben: das Kirschwasser in der Schwarzwälder Kirschtorte).
Zum anderen ist jeder das Produkt seiner Veranlagung und seiner Lebensgeschichte. Das Potenzial befähigt grundsätzlich zu allerlei, ob es jedoch sichtbar wird, hängt unter anderem davon ab, ob es fleißig genährt und gepflegt wird oder ob es, kaum, dass es in Erscheinung tritt, Ablehnung, Befürchtungen oder Schlimmeres im Umfeld hervorruft. Nicht anders, als bei anderen Talenten. Wäre Wolfgang Amadeus nicht in einer Musikerfamilie sondern bei einem Fischhändler aufgewachsen, hätte es ihm passieren können, dass seine musikalischen Anwandlungen nicht nur unentdeckt geblieben, sondern womöglich unterbunden worden wären, wenn er versucht hätte, mit dem Oktopus um die Wette zu fiedeln.
Ein dritter Grund kann sein, dass immer mehr Menschen sich in diesen Beschreibungen zu erkennen glauben, obwohl etwas anderes hinter ihren Schwierigkeiten steckt. Die ungezählten sogenannten Tests, die im Internet kursieren und jedem Diagnostiker schlaflose Nächte bereiten, tragen dazu bei. So mischt sich dieses mit jenem und was daraus resultiert, sieht je nach Lichteinfall anders aus.
Kann man denn nicht in einem Satz ausdrücken, was Hochsensibilität ist? Man kann.
Die Veranlagung zur Hochsensibilität (ein unglücklich gewählter Begriff, wie ich finde) befähigt zu einer intensiven und vielschichtigen Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen in kognitiver Hinsicht sowie zu tiefen Empfindungen.
Solche Menschen sind also Vieldenker und Vielfühler, nach dem Motto: 'Darf's ein bisschen mehr sein?'. Sie haben nicht einfach die Wahl auf Empfang zu gehen oder bei Bedarf die Wahrnehmungen abzuschalten, das gibt der Veranlagung die beiden Gesichter von Licht und Schatten. Irreführend ist der Begriff insofern, als er suggeriert, es handle sich um besonders "sensible" Menschen im umgangssprachlichen Sinn, was nahelegt, dass andere nicht gleichermaßen sensibel sein können. Doch ist dieser Umkehrschluss so falsch wie naheliegend. Ebenso wie die Schlussfolgerung, dass Menschen, die besonders empfindlich reagieren, die Eigenschaft der Hochsensibilität besitzen. Auch diese Verwechslung ist nachvollziehbar und trotzdem nicht richtig.
Da man weder in den Kopf noch ins Herz der Betreffenden einen wirklich Einblick hat, kann man die besondere Befähigung nur im sichtbaren Verhalten ablesen. Dort drückt sie sich dann so vielschichtig aus, dass es schwerfällt, alles auf einen Ursprung zurückzuführen: Was haben die Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen, das Einfühlungsvermögen für Mitmenschen und kreatives Talent miteinander zu tun?
Ja, jetzt wo Sie´s sagen ... vor Entscheidungen wird im Allgemeinen nachgedacht und abgewogen, kreative Lösungen sind eine Frage der Kombination, in der Dinge in Gedanken zueinander in Bezug gesetzt werden, die bisher unverbunden waren, und das Einfühlen in andere hat etwas damit zu tun, dass man die Perspektive wechseln kann und mit anderen emotional in Resonanz gehen kann – Vieldenker, Vielfühler ... aha ...
Hochsensible sind also intensiv mit ihrem "Innenleben", den Gedanken und Gefühlen beschäftigt Während die einen dazu befähigt sind und eine Neigung dafür mitbringen, werden andere davon weniger angezogen. Es gibt verschiedene Arten mit der "Unterwasserwelt" (dem Innenleben) in Verbindung zu treten.
Die einen lieben das Schnorcheln und betrachten sich die Welt gerne unbeschwert von oben. Sie haben jederzeit die Chance, einfach weiter zu schwimmen und sich wieder dem sonnigen Geschehen oberhalb zuzuwenden. Sie sind glücklich, hier und da an interessanten Spots Dinge zu sehen, die sonst unentdeckt bleiben. Ansonsten ist ihnen der Aufenthalt oberhalb (im Sichtbaren) deutlich lieber.
In dieser Welt fühlen sich die meisten Menschen wohl. An Land bleiben ja, ins Wasser vielleicht, in die Tiefe blicken, wenn's nicht weh tut und man jeder Zeit zurück kann und bitte nicht so weit und zu lang und überhaupt ... an der Oberfläche atmet es sich angenehmer. Ganz genau hinsehen? Lange an einer Stelle bleiben? Zu viele Nachfragen? Och nö, lass uns lieber was anderes machen, am besten gleich.
Die Taucher (die zumeist mit Geräten unterwegs sind) möchten dort hinzukommen, wo sonst nur die Fische zuhause sind. Sie tauchen im wahrsten Sinn des Wortes ein in diese Welt. Sie interessieren sich für Flora und Fauna unter Wasser, für Wracks für Höhlen, manche zieht die Tiefe an, wo die Sonne nicht mehr hinkommt. Sie sind Besucher und werden auch Teil der Welt unter Wasser.
Einige Menschen lieben die Tiefe, den Tiefgang, das Bleiben, das genaue Beobachten, das Mitschwingen, die Faszination der Welt, zu der nicht jeder Zugang hat. Atmen, sein, Neues entdecken und bestaunen im Innen und Außen. Ab und zu vielleicht gemeinsam mit Gleichgesinnten. Und nach dem Tauchgang erst mal auf dem Rücken liegen und alle Eindrücke noch einmal an sich vorbeiziehen lassen. Schnorcheln? Da kommt man ja nicht hin, wo´s spannend wird.
Und dann gibt es noch die sogenannten Apnoe-Taucher, die ihre Lungen solange trainieren, bis sie mit einem einzigen Atemzug in die Tiefe kommen, in der sie so lange wie möglich verharren. Eine Grenzerfahrung in Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und Geist.
Besonders tief, auf sich selbst gestellt, unabhängig von anderen. Sie beobachten nicht die Welt drum herum, sondern sich selbst. Eine Reise in die Tiefe und nach innen. Das Außen ist Kulisse, die eigentliche Erfahrung findet im Inneren statt.
In der Tauchschule des Lebens würde man die HSPs (Hochsensible Personen) bei den Tauchern finden, einige auch bei den Apnoe-Tauchern. Das Schnorcheln überlassen sie anderen, obwohl es sicher Tage gibt, an denen sie diese um ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit beneiden. Das Risiko besteht, sich in der Tiefe zu verlieren, davon berauscht zu werden, den Kontakt zur Welt verlieren. Wer jemals den Film Deep Blue gesehen hat, weiß, was damit gemeint ist.
Die besondere Wahrnehmung der Hochsensiblen betrifft zunächst alles was man mit den Sinnesorganen aufnehmen kann. Es können aber auch Stimmungen sein, "Atmosphärisches", Zwischentöne, Eindrücke, die man eher intuitiv aufnimmt, statt sie bewusst zu beobachten. Insbesondere werden auch Details und feine Nuancen beachtet und erkannt, die von anderen so gar nicht entdeckt werden. Auch zu den eigenen körperlichen und emotionalen Empfindungen haben Hochsensible mehr Zugang. Aus der Vielzahl der Eindrücke ergeben sich im weiteren Verarbeitungsprozess vielfältige Querbezüge zu bereits Bekanntem, Abwägungen, Parallelen, Unterschiede, Assoziationen ... Das beschert den Betreffenden ein reiches Innenleben und eine komplexe Gedankenwelt. Die emotionale Resonanz auf das Erlebte kann oft einen langen Nachhall haben. Tatsächlich macht es dabei keinen Unterschied, ob es sich um unerfreuliche oder erfreuliche Begegnungen handelt. Beide erzeugen viele Wellen, wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird. Und manchmal eben auch 'zu viele' davon. Hochsensible haben häufig einen engen Bezug zur Natur, viele haben ausgeprägte musische und gestalterische Fähigkeiten und einen Sinn für Ästhetik. Es fällt ihnen leicht, sich in die Welt von anderen empathisch einzufühlen. Grundsätzlich trifft man unter HSPs einen überdurchschnittlichen Anteil an Introvertierten, wobei es auch extravertierte Vertreter gibt. Gerade darüber wurde entdeckt, dass es sich bei den beiden Phänomenen nicht um das Gleiche handelt.
Wer sich nicht ausreichend Chance auf Regeneration einräumt und ein Leben führt, das der eigenen Veranlagung nicht entspricht, erlebt das, was alle Menschen erleben, die zu viel von sich fordern: Sie sind gestresst. Dann kann es zu einem "Kippen" des Verhaltens kommen, zu Rückzug oder Aggression.
Um die Analogie zum Tauchen nochmals herzustellen: Jeder Mensch sucht was anderes, jeder hat eine andere Wohlfühlumgebung und manche würden schon gleich gar nie auf die Idee kommen, sich mit dem Element "Wasser" anders als beim Duschen oder bestenfalls beim Trinken auseinanderzusetzen. Das ist ganz und gar in Ordnung, sonst wären die Seen und Meere überfüllt und die Autobahnen ganz umsonst gebaut.
Gleichzeitig führen diese unterschiedlichen Verhaltensvorlieben aber auch zu Wertungen und Nicht-Verstehen: Was ist der Maßstab? Wie schnell muss man im Leben unterwegs sein? Wie tief muss man in Themen eintauchen? Wie viele Kontakte muss man haben, um dazu zu gehören? Wie viele Bälle muss man gleichzeitig in der Luft halten können? Wie lange darf man sich Ruhe gönnen, wann gilt man als Beckenrandschwimmer?
Was die einen davon haben, dass es die anderen gibt und warum die Natur alles richtig gemacht hat, beleuchtet die nächste Fortsetzung.