Dieser Artikel richtet sich an
Dieser Text ist keine „Wie-du-Hilfestellung“, er will ein Denkanstoß sein zur Reflexion über die eigenen Muster, insbesondere in Situationen, die man als „Niederlagen“ erlebt.
Was hast du davon?
Einen geraden Rücken, ein gesundes Herz und die Chance auf inneres Wachstum und Zufriedenheit.
Hochsensible beschreiben sich oft selbst als zögerlich und trauen sich nicht besonders viel zu. Einerseits. Andererseits spüren sie eine Kraft in sich, ein Wissen darum, dass sie so viel mehr können, als sie zeigen. Sich etwas getrauen, zutrauen, nach vorne gehen. Dieser Impuls wird oft begleitet von mahnenden Gedanken, die in die andere Richtung ziehen und die Zweifel aufkommen lassen, ob es diese Stärke wirklich gibt. Zweifel nicht nur bei anderen, sondern vor allem bei sich selbst.
Eine der großen Schwierigkeiten mit denen Hochsensible zu kämpfen haben, ist ein wahrgenommener geringerer Selbst-Wert. Sie erleben sich nicht als ebenso tüchtig, erfolgreich, stark wie andere und beginnen an ihrem Wert zu zweifeln. In der Folge trauen sie sich weniger zu und werden von anderen auch genau so wahrgenommen. Sie treten vorsichtig auf, beziehen wenig Position und vertreten ihren Standpunkt oft nicht souverän. (Oder so massiv, dass es wiederum negativ ankommt.)
Ich höre als Erklärung oft den Satz: „Ich will nichts falsch machen.“ (Wörtlich oder im übertragenen Sinn). Und mir liegt auf der Zunge: Warum?
Es ist charakteristisch für HSP (Hochsensible Personen), dass sie eher die vorsichtigen sind, die risikobewussten, die zurückhaltenden und allumfassend Bedenkenden. Das ist jedoch nicht das gleiche wie ängstlich, zögerlich oder unsicher zu sein. Letzteres sind „gelernte“ Eigenschaften, die aus tatsächlich erlebten oder hypothetisch angenommenen Konsequenzen entstehen. Man wird nicht ängstlich geboren, man ist ängstlich geworden. Kein Kind kommt unsicher oder schüchtern auf der Welt, es wird dazu durch Erlebnisse und Erfahrungen.
Die Antwort auf die imaginäre Warum-Frage ist:
„Ich will nicht daran schuld sein, wenn es nicht klappt, schief geht, anders ausgeht, etwas Ungutes passiert, der Erfolg ausbleibt, …“
Schuld. Schuld und Sühne. Das sind moralische Begriffe. Doch geht es immer darum? Manchmal könnte man das durchaus glauben. Im Alltag hört man oft als erste Frage: Wer war das? Deutlich öfter als: Wie kam es dazu? Was war der Anlass? Warum wurde so entschieden?
Mit der Suche und dem Finden des „Schuldigen“ werden Probleme nicht gelöst, sondern in vielen Fällen erst geschaffen. Unter anderem, wenn man sich selbst die Frage stellt und zu dem unerfreulichen Schluss kommt: Ich war es, ich bin schuld. Schuld ist man. Schon am Verb kann man sehen, dass sie, die Schuld, mit der Person verschmilzt und eins ist, von ihr gar nicht mehr zu trennen ist.
Ich möchte einen anderen Begriff daneben stellen, der so nah und scheinbar austauschbar erscheint, jedoch etwas ganz andres ist: die Verantwortung.
Verantwortung trägt man, wie etwas Wertvolles, das man in Händen hält. Man hat sie genommen, man hat sie bei sich, doch sie verschmilzt nicht mit der Person. Tatsächlich kann sie in vielen Fällen sogar wieder abgegeben werden, ganz im Gegensatz zur Schuld, die einem keiner mehr nimmt.
Ob als Eltern, als Führungskraft, als Bevollmächtigter, als Ausführender eines Auftrags, man ist verantwortlich und je nach Kompetenz berechtigt, etwas zu entscheiden. Dabei kann man Fehler machen, ganz klar. Deshalb fragt man sich vorher zu Recht: Kann ich das „tragen“ oder ist es zu groß/zu schwer für mich?
Meinst ist das aber gar nicht das Problem, auch für viele Hochsensible nicht. Denn auch solche, die zögerlich auftreten, haben häufig in sich ein inneres Bewusstsein ihrer Stärke. „Und doch … wenn es misslingt …?“
Will man eine gute Lösung finden, eine Katastrophe verhindern, eine Chance nutzen, etwas erreichen, die Dinge zum Guten wenden … und es geht schief: Dann trägt man dafür die Verantwortung.
Nehmen wir einen Piloten, der sich für eine Notlandung entscheidet. Wenn Menschen dabei sterben, trägt er dafür die Verantwortung, aber ist er schuld?
Wenn man sich schuldig macht, hat man, womöglich wider besseres Wissen, etwas getan, veranlasst, ausgelöst, sich für oder gegen etwas entschieden, um einen persönlichen Vorteil zu erhalten. Das Motiv ist egoistisch. Die eigenen Interessen stehen im Vordergrund und treiben die Handlung in eine bestimmte Richtung.
Wollte man die Lorbeeren einheimsen, als Held dastehen, der Größte sein, ein Problem los werden, jemand anderem etwas anhängen, mit weißer Weste dastehen, als Retter auftreten … und es geht schief: Dann ist man schuld.
Die moralische Frage und damit die Schuldfrage ergibt sich aus dem Motiv, das hinter der Handlung steht, nicht aus dem Ergebnis. Wenn man die Verantwortung trägt, kann das Ergebnis unerwartet negativ ausfallen und unter Umständen ist man sich des Risikos sogar bewusst. Trotzdem wählt man zu diesem Zeitpunkt diesen Weg, weil man denkt, er sei im Sinne der Sache oder der Personen, die es betrifft, der beste. Wüsste man alles vorher, was man hinterher weiß, würde man vielleicht anders gehandelt haben, weiß man aber nicht. Wenn nicht das eigene Ego der Nutznießer ist, sind moralische Vorwürfe deplatziert. Sowohl von anderen, wie von sich selbst.
Stell dir einen Arzt vor, der eine schwierige Operation vor sich hat, die das Leiden des Patienten lindern kann, doch auch aufgrund der Begleitumstände zum Tod führen kann. Ist er dann schuld? Sind die Angehörigen schuld, die den Schritt befürwortet haben?
Schuld entsteht aus einer „absichtlich“ negativen Handlung und die liegt meiner Meinung nach in den allerseltensten Fällen des Alltags vor. Erst bei moralisch nicht einwandfreiem Verhalten, das zu einem unguten Ausgang führt, kommt zur Verantwortung die Schuld dazu. Zweifellos gibt es die Fälle, in denen Menschen einander Schaden zufügen wollen. Doch kann man das bei sich selbst ja hoffentlich für diesen Fall ausschließen. Wäre man in destruktiver Absicht unterwegs, wäre eher der Ärger die begleitende Emotion und nicht das Schuldgefühl.
Die Scheu vor Verantwortungsübernahme ist demnach eigentlich häufig das prophylaktische Vermeiden von Schuldzuweisungen.
Die Suche nach Schuldigen ist in der Tat weit verbreitet und bedient das Gerechtigkeitsempfinden der Volksseele oder dient der Reinwaschung des eigenen Gewissens.
Vor kurzem gab es hier bei mir ganz in der Nähe ein schweres Zugunglück. Die Diskussion in den Medien blieb so lange wach, bis der „Schuldige“ gefunden wurde. Und? Wollte er 100te Menschen in den Tod treiben? Wohl kaum. Ja, er trägt die Verantwortung für sein Fehlverhalten, das ist schwer genug. Die Frage nach Strategien, um solche Katastrophen zu verhindern, hat die Medien nach meinem Eindruck deutlich weniger beschäftigt.
Nun ist ja nicht jeder von uns Pilot, Zugführer oder Arzt. Wir haben unseren ganz normalen Alltag und auch da, gerade da, spielt die Frage von Schuld eine große Rolle.
Muss ich mich schlecht fühlen, wenn ich nach wiederholtem, wenn vielleicht auch leisem „Hinweisen auf Grenzen“, die keiner so wirklich ernst genommen hat, austicke? Muss ich mich schuldig fühlen, dass die Stimmung dadurch einen Knick gekommen hat? Die Frage stellen sich die meisten Hochsensiblen erst gar nicht. Sie fühlen sich einfach schuldig und ihr Umfeld nimmt es dankend an, an gnädigen Tagen sogar die Entschuldigung gleich mit dazu. „Meine Güte, sie halt wieder, …“ Ganz klar, wer hier am Ende den schwarzen Peter in der Hand hält. Dieses Austicken ist ein Notfallprogramm, das nur deshalb in Gang kam, weil die Grenzen nicht beachtet wurden. Dafür ist zum einen die Person selbst verantwortlich (weil sie es so weit hat kommen lassen), zum anderen diejenigen, die nicht willens, nicht bereit, nicht fähig, nicht aufmerksam, nicht achtsam genug waren, zu erkennen, dass dieser Zeitpunkt naht.
Hier gibt es keine Schuldigen, alle zusammen haben dazu beigetragen, dass es zum Eklat kam. Es gibt Probleme, es gibt Störungen, es gibt Auseinandersetzungen, an denen trägt keiner Schuld sondern jeder seinen Anteil.
Der Gefühlszustand der Schuld nagt am Selbstwert, kontinuierlich, bis nicht mehr viel davon übrig ist. Deshalb, genau deshalb finde ich die Unterscheidung so wichtig. Mag sein, dass man an manchem Unglück schuld ist, meist reicht es allerdings, sich verantwortlich zu fühlen. Rechtfertigen muss ich mich, wenn ich wider besseres Wissen etwas falsch gemacht habe. Für den Fall der Verantwortlichkeit genügt es, darüber nachzudenken, was ich mit dem Ergebnis jetzt bestmöglich tun kann und was ich aus der Erfahrung lernen kann.
Gleiches gilt für berufliche Situationen oder bei Entscheidungen. Es gibt immer ein mehr oder weniger großes Risiko, nicht das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Mit mehr oder weniger schwerwiegenden Konsequenzen. Gerade wir Hochsensible werden die Alternativen mit Bedacht abwägen und gerade das ist wahrhaft verantwortungsvolles Handeln. Wer wollte dann einen Stein werfen, wenn das Ergebnis nicht so ist, wie man es sich erhofft hat?
Keine Frage, das alles ist nicht einfach. Mir geht es hier allein darum, ob man in diesen belastenden Situationen zusätzlich mit Fremd- und Selbstvorwürfen kämpfen muss oder nur traurig, enttäuscht, geknickt ist, weil man eine Niederlage einstecken musste. Vorwürfe von anderen kann man nie verhindern, doch wenn man mit sich selbst im Reinen ist, hat man zumindest einen Schutzschild um sein Herz.