Angenommen, eine Führungskraft des Unternehmens "Pro-Fit" vertraut in der Konferenzpause einem Kollegen an: "Übrigens, ich habe in meiner Abteilung drei Hochsensible." Was ist die wahrscheinlichste Antwort?
a) Herzlichen Glückwunsch, darum beneide ich Sie.
b) Mein Beileid, Sie sind nicht zu beneiden.
c) Möchten Sie auch noch eine Tasse Kaffee?
Schließt man die Antwortmöglichkeit (c) aus, weil die Protagonisten in unserem Beispiel durch welchen Umstand auch immer, bereits wissen, dass es so etwas wie Hochsensibilität gibt, was allein schon ein Fortschritt wäre, was wäre dann die mutmaßliche Reaktion?
Wahrscheinlich fällt sie nicht so aus, wie Sie und ich uns das wünschen. Auch wenn mittlerweile allerorts zu lesen ist, dass Hochsensibilität schließlich eine Gabe und kein Fluch sei, wird das weder von Hochsensiblen selbst, noch von deren Umfeld überwiegend so gesehen. Man kann sich zu dieser Überzeugung "hin-arbeiten", doch selbstverständlich ist sie nicht.
Hochsensibilität ist eine Kombipackung, wie andere Persönlichkeitseigenschaften auch, mit einer spröden Keks- und einer cremigen Schokoladenseite. Sprechen wir anlassgegeben über den Keks.
Vielleicht gäbe es nicht so viel Diskussion um den "gesellschaftlichen Wert" hochsensibler Menschen, wenn nicht gerade im Arbeitsleben oder im Familienleben eine Frage häufig diskutiert würde: Sind Hochsensible weniger belastbar?
Belastbar sein, was stemmen können, Durchhaltevermögen zeigen, seinen Mann stehen, multitaskingfähig sein, stark sein ... damit kann man gewöhnlich punkten, damit demonstriert man Wert für die Gemeinschaft und mittelbar auch oft für sich selbst. Der eigene Maßstab definiert sich häufig genug über andere, über den Vergleich, über die Außensicht. Und nicht selten ist die traurige Bilanz, dass man da nicht mithalten kann. Andere können mehr, länger, weiter, höher, schneller ... scheinbar.
Doch der Vergleich täuscht. Von außen betrachtet mag es richtig sein, dass rein quantitativ weniger Papier vom linken auf den rechten Stapel geschaufelt wird – im übertragenen Sinne. Doch qualitativ passiert deutlich mehr, als man sehen und messen kann. Hochsensible arbeiten anders, ihr Geist arbeitet anders und das führt dazu, dass sie einen Teil der Kapazität in Dinge investieren, die für andere zunächst nicht wahrnehmbar sind. Das geschieht automatisch und ist eine Eigenheit, die das hochsensible Gehirn ganz ohne Zutun des Bewusstseins leistet. Die für HSP charakteristische Tiefe der Informationsverarbeitung (Depth of Processing) ist dafür verantwortlich, dass es weniger Input von außen braucht, um einen Punkt zu erreichen, an dem der Bereich des Wohlfühlens überschritten ist und die oft genannte Belastungsgrenze erreicht ist.
Jeder Mensch, ob HSP oder nicht, sucht bewusst oder unbewusst den Zustand, in dem er sich nicht gelangweilt und nicht überbeansprucht fühlt. Dieser Zustand optimaler Erregung (damit ist der Grad der Stimulation des Nervensystems gemeint) wird als angenehm empfunden. Schon kleine Babys weinen, wenn sie sich unbeachtet und nicht gut unterhalten fühlen und auch, wenn ihnen alles zu viel wird. Wenn sich Erwachsene mit zu viel Ruhe und Reizunterforderung nicht gut fühlen, schalten sie beispielsweise das Radio an. Die Hintergrundbeschallung sorgt für eine gewisse Grundstimulation. Vermutlich kennt auch jeder das Gefühl der Überforderung, das auftritt, wenn von allen Seiten etwas oder jemand auf einen einstürmt, alles gleichzeitig beachtet sein will. Man reagiert genervt, die Gedanken sind nicht mehr klar. Manche explodieren, andere ziehen sich zurück und neigen eher zum Implodieren. Das Grundmuster dieser Reaktionen ist bei allen Menschen vergleichbar. Jeder sucht implizit die gute Balance aus Spannung und Entspannung.
Auch HSP reagieren ganz genau so, worin sie sich unterscheiden, ist die Intensität, Qualität und Menge an Reizen, die es braucht, um sich in einem unterforderten, wohligen oder bereits im Zustand der Überforderung zu befinden.
Das Nervensystem von HSP ist "empfänglicher" für Input. Es hat gewissermaßen mehr Antennen mit höherer Bandbreite. Deshalb gibt es Unterschiede hinsichtlich der Schwelle, die erreicht werden muss, damit Dinge überhaupt bemerkt werden, hinsichtlich der Aspekte, denen im Innen und Außen Beachtung geschenkt wird, wie differenziert sie wahrgenommen werden, hinsichtlich der Intensität der Wahrnehmung, welche Querverbindungen zwischen verschiedenen Komponenten hergestellt werden, wie lange sich das Gehirn aktiv damit beschäftigt oder wie schnell es an einen Reiz adaptiert, wie lange das Nervensystem braucht, um sich von der Informationsverarbeitung zu erholen und auch hinsichtlich der emotionalen Beteiligung und Bewertung.
Diese höhere Sensitivität hat natürlich viele Vorzüge, die, in der passenden Situation, nutzbringend eingesetzt werden können. Das ist die Schokoladenseite (die in diesem Beitrag nicht im Mittelpunkt steht). Doch gibt es das eine nicht ohne das andere. Man kann diese Eigenschaften des Nervensystems nicht ein- oder ausknipsen, um einerseits die Vorteile nutzen zu wollen und andererseits die Schattenseiten nicht in Kauf nehmen zu müssen. Jedenfalls wüsste ich nicht, wo sich dieser Schalter befinden sollte. Man kann durchaus Strategien entwickeln, diese Eigenschaft in gewinnbringender Weise einzusetzen. Die Tatsache, dass mehr aufzunehmen, auch bedeutet, sich mit mehr Input auseinandersetzen zu müssen, ist jedoch nicht wegzudiskutieren.
Ein Reiz, auch Stimulus genannt, ist alles, was die Nerven aktiviert. Das können Sinneseindrücke von außen sein und auch innere Wahrnehmungen wie z.B. Schmerzen, Verspannungen oder Hunger. Auch Gefühle, die durch Gedanken ausgelöst werden, wie Sorgen, Befürchtungen, Kummer oder Vorfreude stellen Stimuli für das Nervensystem dar. Reize können eine sehr unterschiedliche Qualität haben, das hängt von ihrer objektiven Qualität ab (Lautstärke, Helligkeit, Druck ...) und auch von der damit verknüpften gefühlsmäßigen Bewertung. Bei der Verarbeitung von Informationen gibt es immer auch emotionale Reaktionen, die, selbst wenn sie unbewusst ablaufen, Einfluss auf die individuelle Qualität und Intensität eines Reizes haben.
Wie groß ist die Rührung, die eine Kinderhand bewirkt, die sich vertrauensvoll in die eigene schiebt? Wie groß ist die Trauer, die ein Foto auslöst, das die Erinnerung an eine verflossene Liebe wach ruft?
Scheinbar gleiche Sinneseindrücke können bei verschiedenen Menschen einen gänzlich anderen Aktivierungsgrad hervorrufen, allein durch die gefühlsmäßigen Markierungen, die damit verbunden sind. Insbesondere bei Musik und Gerüchen hängt ein ganzes Netz voll Gefühlen und Erinnerungsfetzen daran, die man mit aus dem See der Vergangenheit zieht, wenn die ersten Töne erklingen oder gewisse Duftmoleküle die Nase erreichen.
Doch nicht nur negative Stimuli haben eine solche Wirkung, auch positive Reize (Vorfreude auf eine schöne Verabredung, Rückkehr des Partners, der lange verreist war) führen zu einer Aktivierung des Nervensystems, das dadurch anfälliger wird für die Auswirkungen zusätzlicher Reize.
Wie stark man auf Reize reagiert und welche physiologischen Reaktionen damit verbunden sind, ist also von Mensch zu Mensch und von Situation zu Situation unterschiedlich. Man geht heute davon aus, dass HSP tendenziell bereits geringere (für andere unterschwellige) Reize wahrnehmen. Man spricht von einer erhöhten Empfindlichkeit oder eben Sensibilität des sensorischen Systems. HSP besitzen eine höhere 'Aktivierungssensibilität' des Nervensystems, d.h. eine niedrigere Schwelle, bei der eine physiologische Reaktion ausgelöst wird. Egal, ob es sich um Lichtblitze, Disharmonien in Beziehungen oder die Reaktion auf Pharmaka handelt. Vieles, was wir aufnehmen, bekommen wir gar nicht mit, obwohl es im Gehirn bearbeitet wird und auch Folgen hat.
Situationen, die für die meisten Menschen ganz normal sind, wie zum Beispiel die Fahrt in einer belebten U-Bahn, können deshalb für manche Hochsensible bereits eine Reizflut darstellen, die nur schwer zu ertragen ist. Geräusche (Rattern der Bahn, Musik aus Kopfhörern) Gerüche (Rauch, Körperausdünstungen), Stimmungen (Aggression, Angespanntheit) und Berührungen (aufgrund der Enge) ergeben einen Cocktail, den sie nach Verlassen der Bahn erst mal 'verdauen' müssen.
Man könnte auch sagen, all das sind zusätzliche "Beanspruchungen" und damit Belastungen, mit denen das Gehirn und der gesamte Organismus fertig werden müssen. Das sieht keiner, das kann auch keiner beurteilen und ... das wird vermutlich auch keiner wertschätzen ... aber es geschieht. Und zumindest jeder hochsensible Mensch sollte jetzt vor sich selbst den Hut ziehen und ein anerkennendes "Alle Achtung" beisteuern.
Hochsensible sind somit nicht weniger belastbar, sondern werden durch mehr Reize beansprucht, die Energie fordern, um verarbeitet zu werden." Ja, dann denk doch nicht so viel." Das ist eine Aufforderung, die ähnlich hilfreich und umsetzbar ist, wie "Riech nicht hin" oder "Sei spontan" oder "Sei nicht so empfindlich". Schön wär's wenn da so einfach ein Regler wäre, mit dem man bei Bedarf die Wahrnehmung drosseln könnte und den Gedankenfluss reduzieren könnte. Den gibt es in der Tat, erfordert allerdings etwas Übung.
_ Anerkennen Sie selbst, wie Sie sind und was Sie leisten. Sie leisten nicht weniger, sondern zusätzliches, das nicht immer sichtbar ist. Das stärkt Ihren Selbstwert und damit Ihre Stabilität. Wichtige Voraussetzungen, um die eigenen Fähigkeiten zu nutzen, statt an den Begleiterscheinungen zu leiden und den Anforderungen des Alltags mit innerer Kraft entgegen treten zu können.
_ Rechtfertigen Sie sich nicht. Rechtfertigung ist ein Angriff aus der unterlegenen Position. Niemand, der Sie vorher kritisiert hat, wird deshalb seine Meinung ändern ("Ach, sie sind hochsensibel, dann nehmen Sie sich gerne eine Pause und die anderen werden das für Sie erledigen"Schon mal gehört? Nein.).
_ Erwarten Sie keine Anerkennung von anderen für diese "Zusatz-Leistungen". Niemand hat Sie darum gebeten, im Zweifel hat auch vordergründig keiner etwas davon, außer Nachteilen. Was Sie stattdessen an Beitrag zur Atmosphäre, zur Qualität, zur vielschichtigen Betrachtung einbringen, liegt auf anderen Ebenen. Das sollte an anderer Stelle Thema sein, wenn es eine Offenheit des Gegenübers dafür gibt.
_ Etwas mehr Hypnos, etwas weniger Herkules. Sorgen Sie gut für sich. Setzten Sie Ihre Kreativität ein für Ihr eigenes Wohl. Wenn Sie erst mal anerkannt haben, dass Sie zwar viel leisten, dadurch aber auch angestrengt sind, suchen Sie Möglichkeiten der Regeneration. Auch immer mal zwischendrin. Und schlafen Sie – mehr als andere. Das zwackt zwar eine/zwei Stunden Ihres Tages für die Nacht ab, doch der Tag wird anderes sein. Ganz bestimmt.
_ Setzen Sie Ihre Schokoladenseite in Szene. Ja, es wird Dinge geben, da sind andere überlegen, und das ist in Ordnung. Das ist immer so, überall gibt es Menschen, die etwas besser können als man selbst. Das kann Ansporn sein, Neugier hervorrufen (wie machen die das?), sollte aber nicht von Neid oder einem Gefühl der Minderwertigkeit begleitet sein. Dafür können Sie manches, was andere nicht können. Weil Sie ein hochsensibles Nervensystem haben oder weil Sie die Person sind, die sie sind. Mit all den Erfahrungen und Eigenschaften, die das Leben Ihnen geschenkt hat. Machen Sie sich auf die Suche – was unterscheidet Sie von anderen? Wo können Sie diese Qualitäten zeigen und zur Verfügung stellen. Und dabei sollten Sie etwas weiter nach links und rechts schauen, als andere das tun: Ein gutes Sprachgefühl? Stilsicherheit? Ein vermittelndes Wesen in Konfliktsituationen? Ein gutes Gespür für Kundenwünsche? Außergewöhnliche Ideen? Ein hoher Qualitätsanspruch? Wo hilft Ihre Persönlichkeit Ihnen selbst und anderen? Denken Sie an ein Rennradteam: Was wäre der Träger des gelben Trikots ohne seine Mannschaft? Jeder trägt mit unterschiedlichen Qualitäten zum Erfolg bei, aber nicht jeder kann alles gleich gut. Was wäre der Stürmer, ohne Verteidiger und Kapitän. Sicher, am Ende zählen die Tore – doch um sie zu ermöglichen, gehört mehr dazu als der Schuss.
Drei Hochsensible im Team - dazu kann man eine Führungskraft beglückwünschen oder sie bedauern. Es hängt ganz maßgeblich von der Einstellung und dem Verhalten der Vielfühler selbst ab, ob sie ein Team, eine Familie, eine Gemeinschaft bereichern oder zur Belastung werden.